„Fernseh-Erinnerungen“. Eine Untersuchung subjektiv wahrgenommener Medienwirkungen auf Repräsentationen vom Holocaust
Beeinflusst das Fernsehen die Art und Weise, wie geschichtliche Ereignisse erinnert werden? In ihrem Dissertationsprojekt hat Juliane Finger am Beispiel von Fernsehdarstellungen des Holocaust einen Ansatz zur Untersuchung langfristiger Medienwirkungen entwickelt.
Im Alltag sehen Personen nicht nur einen Fernsehfilm oder lesen nicht nur einen Zeitungsartikel, sondern sie kommen immer wieder in Kontakt mit Darstellungen von bedeutsamen Themen oder Ereignissen. Die Frage nach langfristigen Wirkungen alltäglicher Mediennutzung ist daher wichtig, aber wissenschaftlich bislang nur wenig untersucht. In der Dissertation von Juliane Finger wurde ein Ansatz zur Untersuchung langfristiger Medienwirkungen entwickelt, bei dem Medienwirkungen aus der heutigen, subjektiven Perspektive der Mediennutzer rekonstruiert werden. Der Ansatz wurde am Beispiel der Wirkung von Fernsehdarstellungen des Holocaust auf mentale und kollektive Repräsentationen (=das Wissen, die Erinnerungen und die Emotionen der Nutzer) angewendet. Die Ergebnisse zeigen, dass das Fernsehen ein wichtiger Einflussfaktor im Kontext weiterer zentraler Einflüsse wie Familie, Schule oder Gedenkstättenbesuche ist. Beispielsweise erweitern Nutzer über Fernsehdokumentationen kontinuierlich das eigene Wissen, oder es gibt Schlüsselerlebnisse, welche nachhaltig ihre Auseinandersetzung mit dem Holocaust beeinflussen. Allerdings verliert das Fernsehen für die jüngeren Generationen tendenziell an seiner zentralen Bedeutung. Hieraus ergeben sich Implikationen für die zukünftige Vermittlung des Themas Holocaust über das Fernsehen.
In der Dissertation von Juliane Finger wurde ein Ansatz zur Untersuchung langfristiger Medienwirkungen ent¬wickelt, der die subjektive Perspektive der Rezipienten in den Vordergrund stellt. Das heißt, es werden auf die eigene Person wahrgenommene Medienwirkungen betrachtet. Unter langfristigen Wirkungen werden jene Wirkungen verstanden, die über den Moment der Exposition hinaus und potentiell über das gesamte Leben hinweg andauern. Der methodische Zugang zu diesen langfristigen Wirkungen erfolgt über ein retrospektives Verfahren, bei dem die vergan¬gene Medienexposition und deren Konsequenzen (= Medienwirkungen) aus dem individuellen Gedächtnis rekonstruiert werden. Das individuelle Gedächtnis ist konstruktiv: Erinnerungen können vergessen oder durch verschiedene Einflüsse verändert sein (z.B. Schacter, 1999). Dennoch zeigt die bis¬herige Forschung, dass zentrale und individuell bedeutsame Erinnerungen an Medienexposition noch nach Jahren abgerufen werden können (z.B. Dhoest, 2007; Potts et al., 2008). Der Ansatz wurde an einem Fallbeispiel angewendet. Für dieses war die übergeordnete Frage, welche Wirkung Holocaust-Darstellungen im bundesrepublikanischen Fernsehen auf die indi-viduellen mentalen und auf die kollektiven Repräsentationen der Rezipienten haben. Der Zugriff zu den kollektiven Repräsentationen erfolgt über die soziokulturell geprägten individuellen Gedächtnisse, die collected memories (Olick, 1999). Für die empirische Umsetzung wurden zwei qualitative Methoden eingesetzt: Es wurden 15 medienbiographische Interviews mit drei Altersgruppen sowie fünf Gruppendiskussionen mit zwei Altersgruppen geführt. Dabei wurden Personen mit zwei unterschiedlichen Bildungsniveaus einbezogen. Basierend auf der qualitativen Inhaltsanalyse (Gläser & Laudel, 2010; Mayring, 2008) wurde ein eigenes Auswertungskonzept entwickelt. Die Ergebnisse machen für das Anwendungsbeispiel deutlich, dass das Fernsehen ein Faktor ist, der im individuellen Lebensverlauf eine Wirkung auf mentale Repräsentationen und die Auseinandersetzung mit dem Holocaust hat. Umgekehrt beeinflussen mentale Repräsentationen die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, unter anderem über die Zuwendung oder Abwendung von Fernsehdarstellungen. Weitere Einflussfaktoren sind die Familie, die Lebensphase, das individuelle Themeninteresse sowie auf Gruppenebene das Bildungsniveau. Auf überindividueller Ebene zeigt sich außerdem ein Altersunterschied, der als generationsspezifische Mediensozia-lisation gedeutet wird. Ein hervorstechender Unterschied zwischen den Generationen ist, dass das Fernsehen für die heute jungen Erwachsenen (geb. 1985-1992) im Vergleich mit den heutigen Rentnern (geb. 1941-1951) an seiner zentralen Bedeutung verliert. Hieraus ergeben sich Implikationen für die Vermittlung des Themas Holocaust über das Fernsehen, beispielsweise die Frage, wie jüngere Generationen mittels Fernsehdarstellungen zum Weiterdenken angeregt werden können.
Für den entwickelten Ansatz der langfristigen Medienwirkungsforschung zeigen die Ergebnisse, wie der Ansatz bestehende Zugänge zu Medienwirkungen ergänzt: Erstens werden über die subjektive Perspektive Aspekte erfasst, die sich standardisierten Verfahren verschließen. Zweitens wird durch das retrospektive Verfahren ein Zugriff auf die Vergangenheit möglich. Drittens wird mit der qualitativen Methodik der biographische bzw. gruppenspezifische Kontext erfasst. Damit wird es möglich, Wirkungsphänomene zu betrachten, die bislang durch den Fokus auf die Kausallogik der Medienwirkungen (vgl. Perry, 1996) weitgehend unbeachtet bleiben.
Infos zum Projekt
Überblick
Laufzeit: 2010-2016
Forschungsprogramm: FP3 - Wissen für die Mediengesellschaft