Kommentieren, bewerten, verbreiten – das Publikum mischt mit im Journalismus. Leser, Hörer und Zuschauer können im Internet und in sozialen Medien journalistische Beiträge bewerten, kommentieren und teilen. Sie können aber auch selbst Texte veröffentlichen. Ob und wie diese Möglichkeiten genutzt werden, und was dies für die Arbeit von Journalisten bedeutet, hat das DFG-Projekt „Die (Wieder-)Entdeckung des Publikums“ untersucht.
Soziale Medien haben das tradierte massenmedial geprägte Verhältnis von Journalismus und Publikum verändert. Welche Auswirkungen haben die partizipativen Angebote der digitalen Medien auf journalistische Leistungen und Erwartungen sowie auf Praktiken und Erwartungen seitens des Publikums? In dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt wurden mit Hilfe von Leitfadeninterviews, onlinegestützten Umfragen und Inhaltsanalysen Fallstudien in vier Redaktionen (Tagesschau, Süddeutsche Zeitung, ARD Polittalk, Der Freitag) zu informations- und debattenorientierten nachrichtenjournalistischen Angeboten durchgeführt.
Sie zeigen, dass jede Redaktion ihre eigene Antwort auf die Herausforderungen findet, die gesteigerte Möglichkeiten der Publikumsbeteiligung aufwerfen. Die Größe der Redaktion, die Publikationsrhythmen des Offline-Angebots, die Verzahnung oder Trennung zwischen Online- und Offline-Angeboten sowie die eigene publizistische Strategie sind dabei zentrale Variablen. Vergleicht man die wechselseitigen Erwartungen zwischen Journalisten und ihren Publikumsmitgliedern, so zeigte sich, dass bei den traditionellen journalistischen Aufgaben Übereinstimmung besteht, da diese beidseitig weiterhin für wichtig gehalten werden. Allerdings überschätzen Journalisten oft affektive Motive aktiver Publikumsmitglieder (z. B. „Dampf ablassen“) und unterschätzen das Motiv, mit Hilfe von Beteiligung auch das eigene Wissen erweitern zu wollen.
In epd medien Nr. 6 vom 6. Februar 2015 hat Nele Heise die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst:
zum Artikel. In einem
projektbegleitenden Weblog sind Projektverlauf, Publikationen, Erhebungsinstrumente und weitere Informationen dokumentiert.
Ergebnisse
Zwischen 51 und 87 Prozent des Publikums des jeweiligen Mediums haben die neuen Möglichkeiten der Beteiligung zumindest schon ein Mal genutzt. Eine deutlich kleinere Gruppe, der „harte Kern“, beteiligt sich häufig und intensiv in den Kommentarbereichen auf den jeweiligen Webseiten oder auf den Social Media-Profilen der Medien. Für die Redaktionen verursachen die vergleichsweise wenigen aktiven Publikumsmitglieder dennoch einen nicht unerheblichen Aufwand: Hunderte Kommentare müssen gesichtet und moderiert werden.
Auch für viele Leser und Zuschauer, die sich nicht aktiv beteiligen, haben Kommentare anderer Publikumsmitglieder eine Bedeutung: Sie lesen sie, um etwa weitere Informationen und Standpunkte kennenzulernen, die im zugehörigen journalistischen Artikel nicht vorkommen.
In der journalistischen Berichterstattung findet die Publikumsbeteiligung bei drei der vier Medien nur wenig Niederschlag. Das wird allerdings vom Großteil des Publikums auch nicht anders gewünscht. Journalisten wollen relevante Informationen verbreiten, komplexe Sachverhalte erklären und vermitteln sowie Kritik an Missständen üben – und genau das sollen sie aus Sicht ihres Publikums vorrangig auch tun. Dialog- und partizipationsorientierte Aufgaben betrachten die meisten Journalisten demgegenüber noch deutlich weniger als Teil ihrer Aufgabe und sie werden auch von den meisten Publikumsmitgliedern weniger deutlich vom Journalismus erwartet.
Allerdings wird durchaus deutlich, dass Internet und soziale Medien durchaus zu einer Erweiterung des Selbst- und Fremdverständnisses der journalistischen Rolle führen: So stellen aktivere Nutzer in puncto Partizipation deutlich höhere Anforderungen an die Medienangebote, und Journalisten in neueren Redaktionsrollen – etwa Social Media-Redakteure – betonen sehr wohl partizipationsorientierte Aspekte ihrer Rolle. Zudem sehen es alle Redaktionen als heutzutage unerlässlich an, in sozialen Netzwerken präsent zu sein und auch auf der eigenen Webseite Kommentarbereiche und andere Beteiligungsmöglichkeiten anzubieten. Die Journalisten hoffen, dadurch die Bindung des Publikums zu ihrem Medium zu stärken. Auch sollen neue Leser und Zuschauer auf sie aufmerksam werden, wenn Nutzer(innen) mittels „Likes“, „Shares“ und „Tweets“ ihre Inhalte verbreiten.
Projektbeschreibung
In dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt wurden Fallstudien in vier Redaktionen durchgeführt: bei der
Tagesschau, einem ARD-Polittalk, der
Süddeutschen Zeitung sowie
dem Freitag . Die vier Fallstudien decken damit drei Kontrastdimensionen ab:
- TV- vs. Print-Redaktionen/-Angebote inklusive ihrer entsprechenden Online-Pendants;
- nachrichtlicher vs. debattenorientierter Journalismus;
- wöchentliche vs. tägliche Erscheinungsweise (s. Tabelle 1).
Tabelle 1: Übersicht der Fallstudien und Zeitpunkt der Durchführung
|
TV/Online |
Print/Online |
informationsorientiert / täglich |
Tagesschau/tagesschau.de
(13.2.2012-5.9.2012)
n= 63 / 4.686 ‖ 10 / 6 |
Süddeutsche Zeitung/sueddeutsche.de
(6.2.2013-20.11.2013)
n= 139 / 525 ‖ 10 / 8 |
debattenorientiert / wöchentlich |
ARD-Polittalk inkl. Online-Angebot
(Redaktion wurde Anonymität zugesichert)
(21.5.2012-16.1.2013)
n= 10 / 354 ‖ 7 / 7 |
Der Freitag/Freitag.de
(5.5.2013-8.1.2014)
n= 10 / 344 ‖ 6 / 6 |
Das n in den Zellen dokumentiert die Fallzahlen folgender Instrumente: standardisierte Redaktionsbefragung / Nutzerbefragung ‖ Leitfadeninterviews Journalisten / Nutzer.
In den Fallstudien kamen jeweils Leitfaden-Interviews, onlinegestützten Umfragen und Inhaltsanalysen zum Einsatz (s. Abbildung 1).
Abbildung 1: Multimethoden-Design der vier Fallstudien
Mit Hilfe dieses Methodenmixes wurde untersucht, wie der professionelle, redaktionell organisierte Journalismus partizipative Elemente in sein Angebot integriert und welche Erwartungen und Erwartungserwartungen hierbei auf Seiten der Journalisten und des Publikums eine Rolle spielen. Im Mittelpunkt stand somit die Frage, wie journalistisch-professionelle Orientierung und Publikumsbeteiligung wechselseitig aufeinander wirken. Sowohl für die journalistischen Anbieter als auch für die Publika wurden jeweils Inklusionsleistungen und Inklusionserwartungen erhoben, um in der Kombination die jeweiligen Inklusionslevels (Ausmaß der Publikumsintegration) sowie Inklusionsdistanzen (Ausmaß der Übereinstimmung der jeweiligen Erwartungen) ermitteln zu können (s. Abbildung 2).
Abbildung 2: Heuristisches Modell
Auf journalistischer Seite konnte so nachgezeichnet werden, wie Redaktionen Publikumsbeteiligung organisieren und wie sich im Hinblick hierauf journalistische Einstellungen und Selbstbilder darstellen. Auf Publikumsseite ließ sich rekonstruieren, in welchem Umfang partizipative Angebote wahrgenommen werden, wie sich das Publikumsbild der Nutzer gestaltet und welche Motive, Erwartungen an sowie Vorstellungen von journalistischen Leistungen vorherrschen. Der Abgleich beider Seiten erlaubte es zudem, jeweils Aussagen über das Inklusionslevel und die Inklusionsdistanz zwischen Journalisten und ihrem Publikum zu treffen.
Die Ergebnisse zeigen, dass jede Redaktion ihre eigene Antwort auf die Herausforderungen findet, die gesteigerte Möglichkeiten der Publikumsbeteiligung aufwerfen. Die Größe der Redaktion, die Publikationsrhythmen des Offline-Angebots, die Verzahnung oder Trennung zwischen Online- und Offline-Angeboten sowie die eigene publizistische Strategie und „Medienmarke“ sind dabei zentrale Einflussfaktoren.
Trotz dadurch bedingter, zum Teil deutlicher Unterschiede zwischen den vier Fallstudien zeigt sich cum grano salis:
- Die redaktionsseitig angebotenen Inklusionsleistungen bringen erheblichen organisatorischen Aufwand mit sich und werden jeweils nur von einem mehr oder weniger kleinen Anteil des Publikums aktiv genutzt. Der direkte Niederschlag im journalistischen Produkt fällt in drei der Fallstudien meist nur gering aus (Ausnahme: Der Freitag).
- Journalisten unterstellen ihren aktiven Nutzern v.a. stark affektive Motive („Dampf ablassen), während die Nutzer selbst vor allem angeben, eigene Meinungen einbringen, auf Fehler hinweisen und ihr Wissen erweitern zu wollen.
- Das journalistische Selbstbild und die publikumsseitigen Erwartungen an journalistische Leistungen liegen im Allgemeinen dicht beieinander: Journalisten wollen, was sie in den Augen ihres Publikums sollen. Vorrangig betrifft das klassische journalistische Aufgaben wie neutral zu informieren, komplexe Sachverhalte zu erklären und Kritik an Missständen zu üben. Es haben allerdings auch neue Ansprüche an den Journalismus Einzug gehalten: auf beiden Seiten (z. B. das so genannte „Gatewatching“, d.h. das Verweisen auf in anderen Medien verfügbare Informationen und Inhalte) oder lediglich auf Seiten des Publikums (z. B. der Wunsch nach Transparenz im Hinblick auf die Autoren, Quellen und Prozesse journalistischer Aussagenentstehung).
- Journalisten überschätzen systematisch die Bedeutung, die Möglichkeiten zur Publikumsbeteiligung in den Augen ihres Publikums selbst haben. Gleichzeitig unterschätzen sie ihren Wunsch nach mehr Transparenz im Journalismus, etwa im Hinblick auf Quellen und Arbeitsabläufe in der Redaktion.
- Die strategische Bedeutung von Publikumsbeteiligung wird in den Redaktionen durchweg als sehr hoch eingeschätzt, während Publikumsmitglieder diesem Aspekt eher indifferent gegenüberstehen.
- Mit den gestiegenen Möglichkeiten zur Partizipation entstehen und artikulieren sich Unterschiede in den Einstellungen des Publikums, die den (Nachrichten-)Journalismus herausfordern. Ein Teil des „multiplen Publikums“ fordert mehr Dialog und Partizipation ein, zumindest jedenfalls die Möglichkeit zur „Gegenrede“.
Jede Fallstudie umfasst die folgenden empirischen Module:
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Leitfadeninterviews mit Redaktions- & Objektleitern
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Standardisierte Befragungen der Redaktionsmitglieder
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Leitfadeninterviews mit Nutzern
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Standardisierte Befragungen von Nutzern
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Format- und Inhaltsanalysen
Zudem werden die Kernergebnisse der standardisierten Befragungen in Tabellenbänden dokumentiert. Derzeit liegen vor: