Ohne Publikum geht es nicht im Journalismus. Das Verhältnis der beiden hat sich durch den Medienwandel jedoch grundlegend gewandelt, je aktiver das Publikum wurde. Ein Projekt am HBI untersucht dieses Verhältnis und hat Journalist:innen als erstes mal gefragt, wie sie ihr Publikum eigentlich so finden und was sie ihm gern einmal sagen würden.
Journalismus lebt von seinem Publikum, auch oder gerade besonders in Zeiten von Corona. Durch die sich kontinuierlich wandelnde Medienlandschaft kann das Publikum auf völlig neue Art und Weise einbezogen werden. Durch das Kommentieren journalistischer Inhalte, durch deren Weiterverbreitung, bei der Ideensuche, Recherche und Themensetzung, durch Crowdfunding einzelner Redaktionen oder gar durch das Verfassen eigener Beiträge kann das Publikum eine aktivere Rolle im Journalismus einnehmen.
Allerdings werden auch die Ansprüche des Publikums vielfältiger: Unterschiedliche Erwartungshaltungen sowie eine Vielzahl neuer Kanäle und Plattformen sorgen dafür, dass sich Journalist:innen anpassen müssen. Journalismus findet nicht mehr nur in Zeitungen und TV statt, sondern auch in Kommentarbereichen, Newslettern, Podcasts, sozialen Medien oder, in Vor-Corona-Zeiten, auf Live-Events.
Die Beziehung zwischen Publikum und Journalist:innen
Mit dem Projekt „Journalismus und sein Publikum: Die Re-Figuration einer Beziehung und ihre Folgen für journalistische Aussagenentstehung“ wollen Prof. Dr. Wiebke Loosen und Julius Reimer herausfinden, wie Journalist:innen mit der wachsenden Komplexität des Publikums umgehen. Ich bin als studentischer Mitarbeiter ebenfalls daran beteiligt. Wir untersuchen, inwiefern die Journalist:innen in direktem oder indirektem Kontakt mit ihren Leser:innen, Hörer:innen oder Zuschauer:innen stehen und wie dies die journalistische Arbeit verändert.Das Projekt zielt auf eine möglichst umfassende Erhebung der aktuell vorkommenden Arten von Publikumsbeziehungen ab. Indikatoren sind unter anderem der thematische Schwerpunkt der Journalist:innen, die von ihnen benutzen Kanäle für den Publikumskontakt sowie das Medium, für welches sie arbeiten, insbesondere, ob es sich dabei um eine etablierte Organisation (EO) handelt oder eine neue Organisation (NO), beispielsweise ein Medien-Start-Up.
In unserer Erhebung haben wir auf den ersten Blick ungewöhnliche Fragen gestellt. Wir wollten von den Journalist:innen wissen, ob sie eine bestimmte Botschaft haben, die sie, wenn sie denn könnten, dem Publikum gerne zurufen würden. Die daraus resultierenden Antworten decken sich interessanterweise mit aktuellen Problemen und Phänomenen im Journalismus.
Medienvertrauen und Fake News
Laut dem Deutschland-Teil des Reuters Digital News Report (2020) vertrauen weniger als die Hälfte (45 %) der Befragten den Nachrichten in Deutschland (2019: 47 %). Zwar zeigt sich, dass der Anteil derjenigen, die den Nachrichten im Allgemeinen nicht vertrauen, im Jahr 2020 mit 23 Prozent nicht angestiegen ist. Doch ist der Teil derjenigen, die sich unsicher sind, ob man den Nachrichten vertrauen kann oder nicht, mit 32 Prozent größer geworden (2019: 29 %). Zudem haben in Deutschland 37 Prozent der erwachsenen Onliner Bedenken, eventuelle Falschmeldungen nicht von Fakten unterscheiden zu können. 22 Prozent der Befragten äußern derartige Bedenken nicht, und 42 Prozent sind dahingehend unentschieden. Diese Zahlen spiegeln sich auch in den Botschaften der befragten Journalist:innen wider:„Schaut, wem ihr vertraut, guckt darauf: Woher kommt das? Nach dem Motto: Glaubt nicht jeden Mist, der da in der Welt ist, sondern guckt tatsächlich auf die Formate, die da sind.“ – Journalistin (EO)
„Glaubt nicht immer alles, was man euch sagt!“ – Journalist (EO)
„Nutzt seriöse Quellen.“ – Journalistin (NO)
„Bleibt neugierig, informiert euch und führt euch immer wieder vor Augen, wie wichtig eben auch qualitativ hochwertiger Journalismus ist, auch für euch und für die Gesellschaft.“ – Journalistin (NO)
Anfeindungen und Angriffe
Von Hassmails bis zu Beschimpfungen und sogar Morddrohungen: Journalist:innen werden immer häufiger Ziel von Hass-Attacken. Aus der Studie „Hass und Angriffe auf Medienschaffende“ (2020) im Auftrag des Mediendienstes Integration geht hervor, dass rund 60 Prozent der befragten Journalist:innen mindestens einmal angegriffen wurden. Etwa 40 Prozent waren demnach mehrmals oder regelmäßig betroffen. Knapp ein Drittel der Befragten ist zudem sogar von Angesicht zu Angesicht attackiert oder beleidigt worden. Der Hass, der Journalist:innen entgegenschlägt, zeigt sich auch in ihren Botschaften an das Publikum: Viele sind sich der Gefahr bewusst und appellieren, nicht immer sofort „rumzubrüllen“:„Erst einmal um den Block laufen, dann schreiben! Weil einfach sehr viele Wut-Mails ankommen und ich der Meinung bin, wir kriegen da als Journalisten häufig ungefiltert was ab, was gar nichts mit dem Text und mit uns zu tun hat.“ – Journalistin (EO)
„Manchmal würde ich mir wünschen, dass die Menschen sich ein bisschen intensiver mit den Inhalten auseinandersetzen, bevor sie einen Kommentar absetzen.“ – Journalist (NO)
„Differenziert denken. Und die andere Seite zumindest versuchen zu verstehen.“ – Journalist (NO)
„Haltet doch einmal inne und brüllt nicht immer so rum!“ – Journalistin (NO)
Ökonomische Aspekte des Journalismus
Viele der bereits befragten Journalist:innen sprechen in ihren Botschaften an das Publikum auch ökonomische Aspekten im Journalismus an. Während die Auflagen der Printprodukte kontinuierlich sinken, verschärft die Corona-Pandemie die finanzielle Lage zusätzlich. Seit Beginn der Pandemie im vergangenen Jahr ist das Anzeigengeschäft der Medienhäuser eingebrochen. Für den April 2020 beispielsweise stellte der Spitzenverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) über alle Medien hinweg einen Rückgang der Werbeinvestitionen von mindestens 40 Prozent fest. Besonders lokale Angebote und Redaktionen seien davon betroffen gewesen. Zudem mussten viele große deutsche Medienhäuser wie Die Zeit oder die Süddeutsche Zeitung auf Kurzarbeit umstellen, während der SPIEGEL aufgrund von Corona-Sparmaßnahmen seine Jugendredaktion auflöste und einige Mitarbeiter:innen vorzeitig in den Ruhestand schickte. In den Botschaften klingt dies so:„Nehmt die [Name Zeitung] nicht als ewig verfügbare Gottesgabe hin, sondern denkt daran, dass es auch ein wirtschaftliches Unternehmen ist, das irgendwie überleben muss.“ – Journalist (EO)
„Viele verstehen, glaube ich, nicht genau, was die wirtschaftliche Situation der Zeitungen ist momentan, wie sie selber dazu beitragen sozusagen, und dass es sehr gut möglich ist, dass es das einfach in mittlerer Zukunft nicht mehr gibt.“ – Journalist (EO)
„Also es wäre natürlich schön, wenn die Leser:innen Journalismus unterstützen, den sie für wichtig halten, und nicht immer erwarten, dass sie online alles umsonst lesen können.“ – Journalistin (EO)
„Ich hoffe, dass auch in Zukunft genug Menschen bereit sind, für Journalismus zu zahlen, der versucht, Dingen auf den Grund zu gehen und sie in ihrer Vielfalt darzustellen.“ – Journalist (EO)
Danke, dass es euch gibt
Neben all den kritischen Aspekten gibt es aber auch Journalist:innen, die ihrem Publikum einfach danken wollen und wissen, wie wichtig die Menschen sind, für die sie tagtäglich Beiträge produzieren:„Danke, dass ihr uns so treu verbunden seid.“ – Journalistin (EO)
„Ich würde auf jeden Fall mich erst mal bedanken für den regen Austausch und würde mir wünschen, dass der weiterhin genauso abläuft, wie es jetzt ist.“ – Journalist (EO)
„Ihr macht das gut. Ihr macht das gut, ihr seid wichtig. Es ist fein, dass es euch gibt.“ – Journalistin (NO)
„Wie cool, dass ihr so engagiert dabei seid. Ihr seid wichtig, sagt mir, was ihr denkt.“ – Journalistin (EO)
Bisher wurden insgesamt 30 Interviews geführt, 20 mit Journalist:innen von etablierten Medienorganisationen und zehn mit Journalist:innen neuer Medienorganisationen. Weitere Interviews, vor allem im Bereich neuer Medienorganisationen, sind geplant. Das Projekt von Wiebke Loosen und Julius Reimer ist auf drei Jahre angelegt und wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.