Eine HBI-Studie zum Superwahljahr 2021 zeigt: Tweets von Politiker:innen einzelner im Bundestag vertretener Parteien verschwinden überdurchschnittlich häufig. Grund genug, genauer hinzuschauen. Aber die Nutzungsbedingungen von Twitter machen das riskant.
von Felix Victor MünchSpontane Reaktionen, Aussagen und Ausrutscher von Politiker:innen im oft inszenierten politischen Meinungskampf sind recht aufschluss- oder zumindest einflussreiche Möglichkeiten, sich über diese eine Meinung zu bilden. Das haben die Reaktionen auf Laschets Lachen im Flutgebiet wieder gezeigt.
Doch entstehen dabei auch oft Sätze wie diese, die Politiker:innen wohl gerne aus dem kollektiven Gedächtnis löschen würden:
- “Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!” (Ulbricht, 1961),
- “I Did Not Have Sexual Relations With That Woman.” (Clinton, 1998),
- “Hab ich die Möglichkeit, auch zum Beispiel mit einem Flugtaxi durch die Gegend fliegen zu können?” (Bär, 2018)
Während sie sehr unterschiedliche Tragweite und Bedeutung haben, haben die drei Zitate doch eines gemeinsam: Alle drei wurden live von traditionellen Medien aufgezeichnet und wiedergegeben. Sie blieben für die Nachwelt erhalten und prägen immer noch die Wahrnehmung ihrer Urheber:innen. Soweit, so gut, so wird Zeitgeschichte geschrieben.
Soziale Medien bieten nun aber die Möglichkeit, Aussagen einfach verschwinden zu lassen. Klar, ein Tweet oder Facebook-Post kann per Bildschirmfoto erhalten werden. Doch ist oft erst Wochen im Nachhinein (siehe Ulbricht) klar, dass eine Aussage wichtig war.
Deswegen sind gelöschte Social-Media-Inhalte, die bei Privatpersonen zu Recht vergessen werden sollten, bei Politiker:innen höchst interessant. Mensch könnte sogar sagen, sie sind zur politischen Meinungsbildung notwendig. Sie ermöglichen neben harmlosen Korrekturen, z.B. Selbstzensur, “Testballons” für gezielte Provokationen und Polarisierung, Algorithmus-Manipulation von Suchmaschinen, das Obfuskieren von rechtswidrigen Inhalten, Flip-Flopping, und vieles mehr.
Wie viele Politiker:innen-Tweets verschwinden vor einer Wahl?
Grund genug für Philipp Kessling und mich, uns im Rahmen eines von Reset unterstützten Projekts rund um das Superwahljahr 2021 die Zahlen zu verschwundenen Tweets von Bundestagskandidierenden und -abgeordneten näher anzusehen.Die Idee war einfach: Wir sammeln die Tweets dieser Politiker, aggregieren sie pro Partei, überprüfen regelmäßig, wieviel davon noch erreichbar sind, und stellen die Ergebnisse in einem Dashboard zur Verfügung. Ermöglicht wurde das durch die großartige Arbeit mehrerer wissenschaftlicher Hilfskräfte, die unter Anleitung von Dr. Jan-Hinrik Schmidt und Jan Rau vom HBI die entsprechenden Twitter-Accounts recherchiert hatten.
Bundestagsabgeordnete
Die Ergebnisse der Vorstudie, die sich nur auf die Bundestagsabgeordneten beziehen, sind insbesondere interessant, da sie auf Daten über einen langen Zeitraum ab Anfang April beruhen, also schon vor den heißesten Phasen des Wahlkampfs.Ein Blick auf die Gesamtzahlen zeigt zunächst, dass die CSU-Abgeordneten im Bundestag auf Twitter eher wenig präsent sind. Das gleiche gilt für die fraktionslosen Abgeordneten. In beiden Fällen bleibt zu beachten, dass es sich hier auch um relativ wenige Abgeordnete handelt. Des Weiteren zeigen die Zahlen, dass die AfD-Fraktion auf Twitter im Vergleich weniger aktiv als die anderen Parteien ist. Erste Analysen von uns und Kollegen zeigen, dass dies konträr zu den Verhältnissen auf Facebook erscheint. Des Weiteren sehen wir, dass die meisten Abgeordneten seit August erhöhte Aktivität zeigen. Im Vorfeld zur Bundestagswahl ein willkommener Plausibilitätscheck unserer Zahlen.
Im Hinblick auf die Überlegungen am Anfang sind aber eben gerade die Tweets interessant, die nicht mehr öffentlich verfügbar sind:
(Die CSU und fraktionslose Abgeordnete sind hier ausgeblendet, da der Mangel an Tweets zu starken Ausschlägen in den normierten Zahlen führt. Alle Zahlen finden sich im Dashboard.)
Zwei Dinge sind hier zu beobachten: Der Tweetschwund der meisten Fraktionen bleibt relativ konstant rund um den Durchschnitt (hier in schwarz). Nicht so allerdings bei den Abgeordneten der AfD:
Hier bleibt die Quote meist deutlich oberhalb des Durchschnitts aller Parteien. Da wir derzeit nicht die Inhalte der Tweets analysieren (zu den Gründen weiter unten mehr), kann nur spekuliert werden, warum. Allerdings liegt angesichts des deutlichen Unterschieds in den aggregierten Zahlen die Vermutung nahe, dass die Gründe sich von denen der anderen Parteien unterscheiden.
Eine weitere Auffälligkeit ist, dass AfD-Abgeordnete ihre Accounts seit Beginn unserer Sammlung deutlich öfter privat gestellt haben als die Angehörigen anderer Fraktionen:
Auch hier können wir zu Gründen keine Angaben machen (s. u.).
Der Blick auf die auf behördliche oder richterliche Anordnung durch Twitter in einzelnen Ländern verborgenen Inhalte lässt allerdings Schlüsse zu: In Deutschland wurden ausschließlich Tweets der AfD verborgen, z. B. aufgrund von Verstößen, die unter das NetzDG fallen, wie “die Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, Volksverhetzung, die landesverräterische Fälschung, Straftaten gegen die öffentliche Ordnung wie die Bildung krimineller Vereinigungen, die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen, bestimmte Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung wie die Verbreitung kinderpornographischer Schriften, Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung, die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen, Bedrohung sowie die Fälschung beweiserheblicher Daten.” (https://de.wikipedia.org/wiki/Netzwerkdurchsetzungsgesetz#Anwendungsbereich, abgerufen am 22.9.2021).
Der einzige Staat außer Deutschland selbst, der Inhalte deutscher Bundestagsabgeordneter auf Twitter verbergen lässt, ist derzeit die Türkei: Alle entsprechenden Tweets wurden durch Abgeordnete der Linken veröffentlicht und enthalten z.B. den in der Türkei verbotenen Begriff “Südkurdistan”.
Bundestagskandidierende
Diese Ergebnisse waren für uns interessant genug, die Studie auf alle Bundestagskandidierenden der im Bundestag vertretenen Parteien auszuweiten. Hier läuft nun dieselbe Untersuchung seit Ende August.Die allgemeine Aktivität entspricht bisher in etwa der Rangordnung bei den Abgeordneten:
Die Ergebnisse zu den Löschungen zeigen bisher ein deutlich homogeneres Bild. Dabei bleibt zu bedenken, dass bei den Abgeordneten bereits mehr Zeit vergangen ist, in denen Tweets verschwinden konnten:
Eine interessante Beobachtung ist, dass hier bei beiden Parteien am jeweiligen Rand des politischen Spektrums bereits abschnittsweise mehr Tweets verschwunden sind als bei den Parteien der Mitte:
Außerdem kehrt sich seit Beginn der Sammlung das Verhältnis auf privat gestellter Accounts zwischen der Linken und Afd um:
Kandidierende der Linken haben, im Gegensatz zu amtierenden Abgeordneten, hier am häufigsten ihre Accounts auf privat gestellt. Das wirft noch mehr Fragen zu den Gründen für ein solches Verhalten bei Bundestagskandidierenden auf. Intuitiverweise sollten diese ja eigentlich nach maximaler Aufmerksamkeit und Reichweite streben. Mögliche Gründe können entweder Selbstschutz vor Attacken und/oder das Verbergen kritischer Inhalte sein.
Mehr Fragen als Antworten
In diesem Sinne ist diese laufende Studie ein gutes Beispiel dafür, dass empirische Wissenschaft oft mehr Fragen als Wissen schafft. Wir wissen jetzt, dass es teils erhebliche Unterschiede zwischen den Parteien und Fraktionen gibt, wenn es um den Anteil gelöschter Tweets geht. Das allerdings bringt uns nur so weit, dass es sich wahrscheinlich lohnen würde, weitere Fragen zu beantworten, z. B.:- wer löscht
- was
- wie oft
- und können wir daraus irgendwelche Hypothesen zur Frage des ‘“warum”’ generieren, die wir dann qualitativ untersuchen könnten?
Alle diese Fragen würden allerdings die Analyse persönlicher Daten sowie die Analyse von Texten gegen den Willen Ihrer Urheber:innen erfordern. Was uns zu einer der wichtigsten Fragen in ethisch verantwortungsvoller Wissenschaft bringt:
Dürfen wir das?
Das ist eine spannende und weder abschließend noch generell beantwortbare Frage. Wir kamen nach langer Überlegung zu folgenden Ergebnissen:Nach unseren ethischen Ansprüchen und Richtlinien: Ja; Tweets von Politikern sind öffentliche Kommunikation, und wir können die Erwartung und das Einverständnis, ja sogar den Wunsch der Politiker voraussetzen, dass ihre Tweets Beachtung finden und durch Medien und Wissenschaft analysiert werden. Beispiele wie das Trump-Twitter-Archiv zeigen, wie relevant und wichtig die Archivierung und Analyse von gelöschten Tweets für die aktuelle Gesellschaft sowie weitergehend für die (zeit)geschichtliche Analyse in Zukunft sein können.
Nach dem Gesetz (DSGVO/GDPR): Ja; das öffentliche Interesse an der öffentlichen Kommunikation von Bundestagskandidierenden und -abgeordneten rechtfertigt unserer Ansicht nach die im DSGVO vorgesehenen Ausnahmen für wissenschaftliche Forschung.
Nach den Twitter Nutzungsbedingungen: Vielleicht; Twitter will durch seine Nutzungsbedingungen für Nutzer:innen seiner Programmierschnittstellen u. a. sicherstellen, dass unsere Datensätze “compliant” sind, d. h. keine gelöschten Daten enthalten. Dies ist im Fall von Privatpersonen auch im Sinne des Rechts auf Vergessenwerdens. Aber das muss nicht zwangsläufig für daraus gewonnenen Analysen gelten, solange wir nur aggregierte Zahlen und Analysen (z. B. topic analysis mit sog. “bag of words”-Ansätzen) und keine einzelnen Tweets verwenden.
Dieses "Vielleicht" kann allerdings sehr riskant für uns werden. Schwammige TOS, die guter wissenschaftlicher Praxis wie der langfristigen Aufbewahrung von Primärdaten im Sinne der Reproduzierbarkeit entgegenstehen, können im Zweifelsfall dazu führen, dass Plattformen unliebsamer Forschung den Datenhahn zudrehen. So gerade erst geschehen im Fall Facebook vs Algorithmwatch oder auch Facebook vs New York University. Für Social-Media-Forscher:innen wie uns kann das die Aufgabe eines die Karriere bisher definierenden Forschungsschwerpunkts und damit dsa Ende unserer Existenz als Wissenschaftler:in bedeuten. Die Schere im Kopf bei der Ideenfindung für neue Projekte kann dadurch sehr scharf werden.
Und eigentlich sollten wir auch all die aufgeworfenen Fragen zum Inhalt der verschwundenen Tweets, die begründbar von hohem öffentlichen Interesse sind, beantworten dürfen. Hier sind u. E. die (nächsten) Gesetzgebenden gefragt, Folgendes sicher zu stellen:
- Social Media Accounts von Politiker:innen und Kandidierenden, die nicht ausschließlich privat genutzt werden, sollten als Wahlwerbung eingestuft werden mit besonderer Behandlung im Hinblick auf Rechte zur Sammlung, Analyse und Archivierung durch wissenschaftliche Forschung.
- Plattformen sollten hohe gesetzliche Hürden gesetzt werden, Wissenschaftler:innen den Zugang zu ihren Daten zu sperren.
Denn öffentliche politische Kommunikation durch amtierende Politiker:innen und solche, die es werden wollen, sollte im Sinne der demokratischen Willensbildung transparent und nachvollziehbar sein und das auch bleiben. Auch und gerade auf medialen Kanälen, die sie selbst kontrollieren.
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