Aktuelle Fragen und Befunde zu Zusammenhängen zwischen der Konstruktion von Geschlecht und digitaler Medientechnik (Geräte und Anwendungen) will das M&K-Themenheft in theoretischen und empirischen Beiträgen bieten. Gastherausgeber*innen: Corinna Peil, Kathrin Müller, Ricarda Drüeke, Stephan Niemand & Ulrike Roth
Fragen nach dem Zusammenhang zwischen
Technik, Medien und Geschlecht erhalten angesichts der aktuell engen Verzahnung medientechnologischer und ökonomischer Dynamiken sowie des Aufkommens immer neuer Medientechnologien und softwarebasierter Anwendungen eine neue Relevanz. Zwei Entwicklungen lassen sich dabei als zentrale Felder ausmachen: die dynamische Ausdifferenzierung von Medientechnologien in Form von vielfältig vernetzbaren und omnipräsenten Geräten und Diensten einerseits sowie vielschichtige Prozesse der Datafizierung andererseits; beide finden immer stärker Einzug in den Alltag der Menschen, und in beiden ist die Kategorie Geschlecht auf multiplen Ebenen wirksam. Insbesondere durch die diskursive und gesellschaftliche Verknüpfung von Technik und Männlichkeit spielt Geschlecht in diesem Zusammenhang als soziale Kategorie eine zentrale Rolle, die über Entwicklung, Partizipation, Aneignungsweisen und gesellschaftliche Bedeutung technologischer Neuheiten mitbestimmt.
Die kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung hat sowohl hinsichtlich klassischer Medien wie Radio und Fernsehen als auch in Bezug auf frühe digitale Technologien deutlich gemacht, dass das Verständnis und der Gebrauch von Medientechnologien nicht primär von ihren technologischen Potenzialen abhängen, sondern auf gesellschaftlichen Zuschreibungen beruhen. Geschlecht wird auf diese Weise in Technik und Technologien eingeschrieben und prägt ihre Nutzung. Solche Konstruktionsprozesse wurden erstmals Ende der 1980er Jahre in der ethnografischen Aneignungsforschung der britischen Cultural Media Studies herausgearbeitet und später im Domestizierungsansatz mit seinem Konzept der
double articulation von Medien weiter theoretisiert.
Angesichts des gegenwärtigen Bedeutungsgewinns von datengetriebenen Prozessen und automatisierten Kommunikationsabläufen stellen Untersuchungen zu einer Vergeschlechtlichung von Datenspuren und Datensammlungen sowie damit verbundenen Folgen und ihre Interpretation ein Forschungsdesiderat dar, das es insbesondere im Zusammenhang mit der Analyse weiterer Ungleichheitsverhältnisse zu füllen gilt: Selbstlernende Maschinen können gesellschaftliche Ungleichheiten nicht nur reproduzieren, sondern auch verstärken, etwa wenn Datensätze sexistische Verzerrungen verfestigen, die Nutzer*innen ungleich positionieren und gesellschaftliche Diversität unsichtbar machen. Algorithmen-basierte Systeme und Entscheidungsprozesse stellen neue Herausforderungen an die kommunikationswissenschaftliche (Geschlechter-)Forschung, mit denen sich das Themenheft explizit auseinandersetzen will. Das Thema „Technik – Medien – Geschlecht revisited“ soll somit nicht nur ausgehend von einer sich wandelnden medienbezogenen Hardware-Umgebung gedacht werden, sondern auch Anstöße geben, Geschlechterfragen im Kontext von neuen Software-Anwendungen und Datenverarbeitungsprozessen zu diskutieren.
Vor diesem Hintergrund lädt das M&K-Themenheft zu einer Reflexion und Diskussion darüber ein, welcher Weiterentwicklungen und Neuperspektivierungen das Verhältnis
Technik, Medien und Geschlecht aus Sicht der kommunikationswissenschaftlichen (Geschlechter-)Forschung bedarf. Es möchte dazu Beiträge versammeln, die aktuelle Fragen und Befunde zu Zusammenhängen zwischen der Konstruktion von Geschlecht und digitaler Medientechnik (Geräte und Anwendungen) thematisieren und hierzu theoretische und empirische Einsichten bieten. Übergreifend sollen dabei Fragen nach Machtverhältnissen, Ungleichheiten und gesellschaftlichen Veränderungspotenzialen besondere Berücksichtigung finden.
Die folgenden Felder und Fragestellungen erscheinen für eine Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld „Technik – Medien – Geschlecht“ besonders interessant:
- Datafizierung, Automatisierung, Künstliche Intelligenz und Gender: Inwiefern fließen geschlechtliche Stereotype und Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit in die Entwicklung von algorithmischen Systemen ein? Wie lässt es sich vermeiden, dass durch Datafizierung binäre Kategorien wie männlich und weiblich aufrechterhalten werden?
- Geschlechtsgebundene Expertisen und Aneignungsweisen neuer Technologien: Inwiefern prägen stabile Geschlechterkonstruktionen die Aneignung neuer digitaler Medientechnologien? Inwieweit kann das Aufkommen digitaler Medientechnologien und ‑anwendungen neue Impulse für die Aushandlung von Geschlechterkonstruktionen liefern?
- Mediale Repräsentationen von Technik und Geschlecht: Welche Zuschreibungen von Männlichkeit und Weiblichkeit gibt es an digitale Medientechnologien? Welche Repräsentationen von Technik und Geschlecht finden sich in digitalen Medien und wie werden sie rezipiert?
- Gesellschaftliche Gegenbewegungen, Umdeutungen und Interventionen in Digitalisierungsprozessen: Welche Chancen und Risiken bieten digitale Medientechnologien für die Organisation und Kommunikation sozialer Formationen (z. B. feministische Öffentlichkeiten, Maker-Communitys), die auf eine Veränderung gesellschaftlicher (Geschlechter-)Verhältnisse abzielen?
Kolleg*innen, die einen Beitrag zu diesem Themenheft beisteuern möchten, werden gebeten,
bis zum 15. November 2019 ein Extended Abstract ihres Manuskriptangebots an die Redaktion zu senden (max. 6.000 Buchstaben inkl. Leerzeichen). Auf Basis der Abstracts wird die Redaktion zusammen mit den Gastherausgeber*innen ein Konzept erstellen und die Autor*innen entsprechend einladen,
bis Ende Februar 2020 ein Manuskript anzubieten. Über die Annahme der Manuskripte wird nach dem üblichen Begutachtungsverfahren von M&K entschieden. Das Themenheft soll im 4. Quartal 2020 erscheinen.
Adresse: Redaktion Medien & Kommunikationswissenschaft, Christiane Matzen,
c.matzen@leibniz-hbi.de
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